Ich merke ich immer wieder, wie wichtig mir stundenweise Auszeiten sind. Ohne andere Menschen. Komplett allein, nur mit Mina an meiner Seite. Das ist für Außenstehende meist schwierig zu verstehen, so wie die Depression an sich schwer nachvollziehbar ist, wenn man nicht selbst betroffen ist. Und genauso schwierig nachzuempfinden sind die Auswirkungen auf meinen Körper, wenn ich ihm diese Auszeiten verweigere.
Auch wenn ich zur Zeit kein Tief habe, merke ich die
Auswirkungen der Depression in meinem Alltag. So ist es auch mit meinen notwendigen Auszeiten, die ich (leider) gerne mal ausfallen lasse. Doch gab es die letzten Tage wieder einige Anzeichen, dass ich mir diese Rückzugsmöglichkeiten fest in meinen Kalender eintragen muss, einfach weil sie momentan noch sehr notwendig für mich sind.
Ich merkte, dass mir Geräusche schnell zu laut wurden. Meine Gedanken ließen sich von allen möglichen Gesprächen um mich herum ablenken und aus dem Konzept bringen. Während die Konzentration flöten ging, rasten meine Gedanken umso schneller und wie wild in alle Richtungen, um die ganzen äußeren und auch meine eigenen, inneren Reize zu verarbeiten. Je mehr Menschen in meiner Umgebung waren, um so anstrengender wurde es für mich. Ich bekam die einzelnen Reize (Licht, Geräusche, Gespräche, Gerüche...) nicht mehr einfach so gefiltert und alles wollte wie ein turbulenter Wirbelwind in meinen Kopf eindringen und sich dort ausbreiten. Um das zu verhindern, musste ich mich sehr anstrengen. Was mit mangelnder Konzentration natürlich schwierig ist und noch mehr Kraft kostet. Doch so konnte ich es zumindest partiell in einigen Situation geregelt bekommen, an Gesprächen teilzunehmen, obwohl drum herum noch andere Menschen ihre eigenen Gespräche führten und ich diesen fast zwanghaft parallel zuhören musste. Je länger allerdings eine solche Situation andauerte, desto anstrengender wurde es für mich. Zeitweise merkte ich schon eine regelrechte Übelkeit in meiner Brust und mein Atem wurde immer flacher. Ich sehnte mich nach Dunkelheit und grenzenloser Stille. Der so notwendige Schlaf in der Nacht wollte sich dank rasender Gedanken erst nicht einstellen und war dann nicht erholsam, weil er ständig von unruhigen und stressigen Träumen unterbrochen wurde. Tagesüber hatte ich das Gefühl, dass meine körperliche Hülle drei Meter vor mir her geht und ich ununterbrochen versuche sie einzuholen und mir doch eigentlich nur ein Wettrennen mit mir selbst liefere.
Weil ich mir einbildete, gewisse Termine nicht absagen zu können, habe ich versucht diese Termine durchzuhalten. Mit dem Ergebnis, dass am Wochenende irgendwann selbst ein 2er-Gespräch sehr ermüdend für mich war. Mein Kopf und mein Körper waren überflutet und noch mit der Verarbeitung der eigentlich längst vergangenen Eindrücke der letzten Tage beschäftigt und konnten deshalb die Gegenwart nicht mehr richtig aufnehmen. Die von mir als Lärm wahrgenommenen Situationen hallten in meinen Ohren nach und verursachten so etwas wie ein Grundrauschen. Meine Augen waren genug gefordert gewesen und forderten jetzt eine ruhige Position ein. Meine Gedanken veranstalteten Sprünge und rasten in alle Richtungen davon und kehrten doch immer wieder zeitgleich in einer endlosen Spirale zurück.
Draußen im Wald auf der stundenlangen Wanderung mit meinem Freund war alles gut. Die Naturgeräusche waren ein Balsam in meinen lauten Ohren. Die Grüntöne beruhigten meine reizüberforderten Augen. Der weiche Waldboden federte meine Füße ab und hieß jeden Schritt willkommen. Die Unterhaltungen floßen seicht dahin und gaben mir ein schön warmes Gefühl im Bauch und machten mein Herz leicht. Die in kurzer Entfernung stehenden und vor sich hin hüpfenden Rehe brachten mich zum freudigen Kichern. (Als in etwas mehr Entfernung die Jagdhörner erklangen, erschrak ich zwar, konnte mir aber gut einbilden, dass die natürlich niemals nicht die süßen Rehlein jagen würden.)
Doch als die körperliche Erschöpfung am Abend einsetzte, merkte meine Krankheit meine Schwäche. Die Depression legte sich auf meine Muskeln und drückte sie mit einem bleischweren Gewicht nach unten. Selbst das Armheben gelang mir nur mit der Überredungskunst meiner Gedanken. Ich lag noch vor dem Abendessen im Bett um mich kurz zu erholen. Doch das Aufstehen war so schwer. Wie sollte es auch gelingen, wenn selbst die Ein- und Ausatmung des notwendigen Sauerstoffes so unendlich viel Kraft kostete? Mir war es ebenso unmöglich, eine Erklärung meines Erschlagenseins in Worten zu formulieren, wie die Bewegung meines Körpers an sich. Das gedämpfte Licht der Nachttischlampe bedeutete zu viele Helligkeit für meine Augen und so verkroch ich mich mit geschlossenen Lidern unter der Bettdecke und verschloss von innen meine Ohren gegen alle Geräusche von außen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die ich bewegungslos da liegend mit rastlosen Gedanken und Zwiegesprächen mit mir und meiner Depression verbracht habe, konnte ich meinen Körper irgendwann zum Aufstehen überreden. Die Bewegung innerhalb der Wohnung gelang, aber die sich nun ausbreitende Kälte in meinen Gliedmaßen ließ sich nicht vertreiben. Mehr als kurze Sätze brachte ich nicht zustande und schon bald nach dem Essen schlief ich endgültig völlig erschöpft ein.
Diese Zeichen meines Körpers kann ich mittlerweile wahrnehmen, lesen und akzeptieren.
Die Angst vor einem erneuten Tief lässt mich nicht mehr wegsehen. Stattdessen kann ich hinsehen und die Warnzeichen erkennen um rechtzeitig gegenzulenken und etwas an meinem Verhalten zu ändern.
Deshalb sondere mich stundenweise ab, um wieder zurück zu mir zu finden. Während ich hierfür am Anfang der Depression Tage oder Wochen brauchte, reichen mir mittlerweile ein paar Stunden am Stück, in denen ich mich zurück ziehe und die Verbindung zur Außenwelt kappe (Handy/Internet/alles aus). Zum Glück merke ich, dass meine Resilienz (= psychische Widerstandsfähigkeit) nach und nach steigt und die notwendige Zeitspanne der Auszeiten kürzer wird.
Gerade in einer Beziehung ist es für den Gegenüber nicht immer einfach nachzuvollziehen, warum ich so konsequente Rückzugszeiten brauche und warum sich ein Depressions-Erschlagenfühlen so allumfassend auf meinen Körper legt, dass ich Angst vor dem Kontrollverlust verspüre. Erschlagensein kennt schließlich jeder mal, denn jeder ist mal müde.
Wie sehr beneide ich Menschen, die dieses Gefühl der inneren Lähmung nicht kennen. Vor meiner Erkrankung war ich auch mal erschlagen und auch mal müde. Klar. Aber das war anders. Das war einfacher, leichter, ohne diese erdrückenden Bleigewichte an meinen Gliedmaßen und die Atem-Enge in meiner Brust, die bisweilen schon zu einem Übelkeitsgefühl führt. Das war ohne diese Sehnsucht nach schwarzer Dunkelheit vor meinen Augen, absoluter Geräuschlosigkeit in meinen Ohren. Ohne dieses Gedankenrasen, das mich in meinem Kopf überfordert und mich zwingt, keine anderen Reize mehr verarbeiten zu können. Selbst wenn ich wollte.
Allein zu sein in meiner Wohnung bedeutet für mich Schutz und Ruhe. Mina gibt mir Wärme, ohne mich mit ihrer Anwesenheit zu überfordern. Meine (Wohnungs-)Höhle gibt mir Halt und ich kann ich selbst sein, auch wenn ich in diesen Momenten manchmal nicht mehr genau weiß, wer ich eigentlich bin. Doch wenn ich die äußeren Reize auf ein Minimum reduziere, kann ich ich sein und werde von nichts davon abgelenkt. Mein Ich kommt ganz langsam wieder in meiner körperlichen Hülle an und das Wettrennen mit mir selbst endet. Wenn ich wieder bei mir bin, kann ich auch wieder unter Menschen gehen, ohne mich dazu zwingen zu müssen. Sondern, weil ich es gerne tue und eigentlich ein Mensch bin, der gerne unter Leuten ist.
Mein Vorsatz für die kommende Zeit heißt deshalb: stundenweise Auszeiten (wieder) fest einplanen und diese nicht als überflüssig abzutun.
[Wenn ich versuche meine Empfindungen in dieser Hinsicht in gesprochene Worte zu packen, stoße ich schnell an meine Grenze. Mir fehlen die richtigen Worte, um dem Gegenüber meine Wahrnehmung und meine Bedürfnisse nachvollziehbar rüber zu bringen. Es ist, als wenn die Depression meinen Mund zuhält und nur die notwendigsten Worte über die Lippen lässt. Wenn ich aufhöre, über die Auswirkungen der Krankheit zu sprechen, lässt die Depression meinen Mund los und ich kann sprechen, als wenn nichts wäre. Umso wichtiger ist mir das Schreiben darüber. Wie sollen andere Menschen sonst verstehen, wie ich mich fühle, wenn ich es nicht aussprechen kann?]